Wenn Loslassen zum Naturschauspiel wird.

In der vergangenen Nacht ist es richtig eisig geworden und die Kälte hat das Gras mit hartem Reif überzogen. Wie jeden Morgen beginne ich meinen Tag mit einem Spaziergang. Doch heute morgen spüre ich etwas Magisches in der Luft.

Knirschend und ächzend stöhnt die Wiese unter meinen Füßen. Fast möchte ich stehen bleiben, um die Stille des Morgens nicht mit meinen lauten Schritten zu quälen.

Die Sonne blinzelt zwischen den Bäumen durch, als wolle sie mich necken. Ich genieße meine Morgenstunde. Ohne Eile und ohne jegliche Hektik darf ich meinen Tag in der Natur beginnen. Was für ein Geschenk.

Ich folge meinem Gefühl und bleibe an einem Baum stehen. Ich will diese Magie nicht stören.

Ich beobachte wie ein, zwei, drei Blätter sanft zu Boden fallen.

„Loslassen“, denke ich. „Heute ist ein guter Tag um los zu lassen“.

Mit jedem Blatt, das ich fallen sehe, denke ich an eine Situation, eine Angewohnheit, oder einen Gedanken, den ich loslassen möchte.

Sanft und zart. Ohne Anstrengung. Wunder-voll.

Die Sonne steigt ein bisschen höher und mit achtsamen Schritten traue ich mich, weiter zu gehen.

Faszinierend“ denke ich mir. „Faszinierend wie die Natur begreift, wann es Zeit ist, los zu lassen

Das, was uns Menschen oft so schwierig erscheint, macht die Natur heute morgen ganz zart und sanft. Und ich überlege mir, ob sich unsere Natur im Herbst mit ihrer Farbenpracht wohl deshalb so schön macht? Schön für dieses Loslassen?

In mir wird es ganz still während ich behutsam und wach weitergehe.

Auf einmal wird es laut, richtig laut. Und ich sehe, wie genau da, wo die Sonne am stärksten in die Bäume scheint, Hunderte von gefrorenen Blättern fast gleichzeitig zu Boden fallen.

Staunend beobachte ich, dass die obersten Blätter am Baum in ihrem Flug ganz viele Blätter von den unteren Ästen mitnehmen. Alles darf losgelassen werden, auch das Unterste.

Binnen von wenigen Sekunden fallen Hunderte von Blättern zu Boden. Kein Wind bewegt sie, keiner rüttelt oder schüttelt an ihnen herum. Sie fallen, als hätten sie ein Kommando des Himmels bekommen. JETZT!

Magische Sekunden des Beobachtens. Ich spüre, dass mit meinem gedanklichen Loslassen vor ein paar Minuten noch vieles Unbewusstes in diesem Moment einfach mit gelöst wird.

Und wieder einmal erkenne ich, dass es die Wärme ist, die das Loslassen erlaubt.

Alles, was zuvor in Kälte und Frost eingehüllt war und uns starr und unbeweglich gemacht hat, braucht kein zusätzliches „ich muss loslassen“, es braucht auch keine Anstrengung, und auch keine Überzeugungs- oder Überredungskraft.

Es braucht nur einen warmen Impuls, ein glitzerndes Strahlen. Und wenn ein oberer Gedanke loslässt, nimmt er viele andere, die darunter schlummerten, einfach mit.

Und mit einem Moment ist alles vorbei. Stille kehrt ein. Loslassen ist faszinierend. Und was fallen darf, wird Mutter Erde entsorgen. So einfach ist das.

4 Kommentare

  1. Frauke

    Was für wunder-wunder-wunderschöner Artikel. Total schön. Ich hatte das Gefühl, direkt neben dir zu stehen und dieses Loslassen mit zu erleben.
    Danke !!!

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  2. Karin Katzer

    Ich kann mich Fraukes Antwort nur anschließen. Es ist immer wieder schön, deine Wahrnehmungen und Erkenntnisse lesen zu dürfen. Und ich habe überlegt, was ich gerne loslassen möchte und stelle fest, dass ich genau damit schon seit einiger Zeit begonnen habe. Alles loszulassen was mir weh tut – Menschen, Gedanken und andere sein zu lassen, wie sie sind – eben nicht mehr mit oder bei mir. Und meinen Perfektionismus habe ich auch zurück geschalten – einfach so – der Stress lässt dadurch nach und ich kann wieder freier atmen. Ich danke dir dafür – für deine langjährige Begleitung. Ich drücke dich ganz doll (oder soll ich ärmel dich sagen), Gruß Karin

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  3. Beatrix Andree

    Liebe Silke,

    eine interessante Beobachtung, dass die Wärme das Loslassen ermöglicht.
    Das Meiste und Wichtigste lernen wir aus der Natur.
    Also, rausgehen und das Wetter spüren, Energie tanken und Loslassen.

    Vielen lieben Dank,

    Beatrix

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    • silke2014

      Ich danke dir, für dein schönes Feedback, liebe Beatrix.

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Silke Steigerwald